Rede von Milena Sigler zur Semester-Anfangs-HVV am 13. Oktober 2015:
Liebe Fichten,
ich wurde gebeten, ein paar motivierende Worte zur Selbstverwaltung im Fichtehaus zu sagen.
Also hab ich mich hingesetzt, und darüber nachgedacht, warum Selbstverwaltung toll ist.
Dann ist mir aufgefallen, dass schon in der Aufgabenstellung drin steckt, warum Selbstverwaltung toll ist – mensch kann dazu motivieren. Selbstverwaltung bedeutet Freiheit und Selbstbestimmtheit. Zu Unfreiheit und Fremdbestimmtheit kann mensch schlecht motivieren.
Ich will Fremdbestimmtheit nicht schlechtreden. Klar kann es schön sein, Verantwortung abzugeben, sich nicht zu kümmern, heimzukommen, und alles ist gemacht, man kann die Füße hochlegen und sich den schönen Dingen des Lebens widmen. Das können alle mal für sich entscheiden. Wichtig ist, dass mensch sich dazu entscheiden kann.
Jede*r im Fichtehaus kann sagen, heute Abend bin ich fix und alle, ich leg mich ins Bett und lese ein gutes Buch, ich habe heute gar keine Lust auf Selbstverwaltung, Diskussionen und Kompromisse. Jede*r im Fichtehaus kann dann aber irgendwann wieder aufstehen und sagen, so, jetzt bin ich wieder auf der Höhe, her mit dem schönen Leben, ich will es gestalten.
Diese Freiheit, mitzuarbeiten, das eigene Leben nach den eigenen Vorstellungen zu formen, ist Glück.
Ich beobachte, dass viele Menschen sich als Objekte ihres eigenen Lebens empfinden. Dieses Leben ist geprägt von Zwängen und Alternativlosigkeit. Daraus entstehen Angst und Bedrohung. Diese Menschen machen Abendspaziergänge mit Plakaten und fürchten sich vor Menschen, die von anderen Erdteilen zu uns kommen. Sie fürchten sich vor dem Neuen und dem Anderen, weil es Veränderung bringt, und sie dann das Gefühl haben, es nicht mitgestalten zu können. Und wenn andere über die Bedingungen des eigenen Lebens bestimmen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es dann nicht nach dem eigenen Willen geht.
Wir im Fichtehaus leben in einer besonders privilegierten Position: Wir können einen wichtigen Teil des Lebens selbstbestimmen – das Wohnen. Neben so offensichtlichen Nachteilen wie einer extrem günstigen Miete, tollen kulturellen Angeboten, inspirierenden Mitbewohner*innen, großzügigen Gemeinschaftsflächen und viel Austausch und Resonanz hat es auch den Vorteil, sich ab und zu Abends zu treffen und Zeit in die Gemeinschaft zu investieren. Unter dem Semester versammeln sich jeden zweiten Montag auf den Küchen die Gremienmitglieder und besprechen zwei Stunden ihre Arbeit. Das ist, umgerechnet, 1/168stel eurer Zeit.
Das waren so meine Gedanken, als ich darüber nachgedacht habe, was Selbstverwaltung so toll ist.
Aber dann dachte ich, warum soll ich das euch erzählen, das wisst ihr sicher alle schon. Das erleben wir hier alle ja jeden Tag. Und ich wünsche mir, und uns allen, dass das so bleibt. Es liegt in unserer Hand. Und jetzt freue ich mich auf unsere tatkräftigen Hände!
Liebe Freunde,
gerade, als das Fichtehaus zwanzig Jahre alt wurde führte Joseph Beuys zur documenta 7 in Kassel eine Aktion durch, die hieß 7000 Eichen. Und kreativ, wie der Mann war, ließ er dem Titel entsprechend 7000 Eichen in Kassel pflanzen. Die ganze Aktion stand unter dem Motto: „Stadtwerwaldung statt Stadtverwaltung“. Und das ist auch der relevante Punkt, weshalb ich diese Geschichte hier überhaupt erzähle. Denn wir machen ja Selbstverwaltung. Und die Frage ist jetzt, ob wir nicht lieber Selbstverwaldung machen sollten?!
Nein, das ist natürlich nicht die Frage, obwohl man bei dem ein oder der anderen Fichten schon eine Tendenz zur Verwaldung bemerken könnte. Ich glaube was an Joseph Beuys‘ Slogan recht deutlich zu erkennen ist, ist dass der Begriff Verwaltung – der Schwabe würde jetzt sagen: „au immer a klois g‘schmäckle hat“. Beuys weist mit seinem Slogan auf einen Teil des Wortes Verwaltung hin, der nach Bürokratie, nach Büros mit grauen Teppichböden und ebenso grauen, gelangweilten Mitarbeitern klingt.
Aber so kann Verwaltung, wie wir sie uns vorstellen, wenn wir davon sprechen, dass das Fichtehaus selbstverwaltet wird, ja wohl nicht gemeint sein. Deshalb frage ich Euch: was kann eigentlich mit Selbstverwaltung für uns gemeint sein?
Lasst uns zur Klärung dieser Frage noch etwas tiefer in die Begriffsklärung eintauchen. Und für alle die Begriffsarbeit eigentlich eher ätzend finden, denen möchte ich entrüstet zurufen, dass die Arbeit am Begriff auch immer eine Arbeit an der Sache selbst ist. Was heißt also Selbstverwaltung?
Gefühlt heißt das erst einmal, das wir hier tun und lassen können, was wir wollen. Wir sind am Drücker. Kein Chef. Kein Mr. Filch. Keine Hausmeisterkatze (höchstens eine Herzkranke). Wir können bestimmen! Vielleicht sollten wir dann lieber sagen selbstbestimmendes Studierendenwohnheim? Nun, da fällt mir direkt ein viel zitierter Spruch ein: with great power comes great responsiblitiy. Wer am Drücker sitzt muss auch Verantwortung übernehmen. Verantwortung übernehmen, das heißt ja jemandem Antwort geben zu können für unser Tun. Aber wer soll das bei uns sein? Rob? Manchmal schon. Aber im Wesentlichen sind wir doch nur uns selbst Rechenschaft schuldig. Insofern möchte ich an dieser Stelle vorschlagen: selbstverantwortliches Studierendenwohnheim. Jetzt fällt mir auf, dass wir den Begriff der Verwaltung bisher echt schlecht haben wegkommen lassen. Hatte Nathan da nicht bei der letzten HVV etwas zur Ehrenrettung des Begriffes angeführt? Das ist jetzt echt schon lange her, aber ich glaube er sagte, dass da etwas „waltet“ im Fichtehaus und das dieses Walten mit der Vorsilbe „ver“ in die richtige Bahn gelenkt wird. So richtig bekomme ich es jetzt auch nicht mehr hin, aber damals hat es sich echt vernünftig angehört! Demnach dann doch lieber selbstverwaltetes Studierendenwohnheim? Und damit sind wir dann auch wieder am Anfang herausgekommen.
Wir sehen nun hier in den drei Kreisen die für uns wichtigen Begriffe, bestimmen, verantworten und verwalten. In den Zwischenräumen ergeben sich daraus die Begriffspaare: verwaltetes Bestimmen, bestimmte Verantwortung und verantwortungsvolles Verwalten. Und in der Mitte, wo sich alle drei Kreise überlappen, da sehen wir das Fichtehaus. Das Fichtehaus, wer oder was ist eigentlich das Fichtehaus? Mir fehlt an dieser Stelle noch das Individuum. Deshalb stelle ich Euch hier noch ein weiteres Prinzip vor. Die Eigenständigkeit im Sinne des Ganzen. Eigenständig, damit ist das Individuum, mit dem Ganzen das Fichtehaus gemeint.
Konkret bedeutet Eigenständig im Sinne des Ganzen zu sein, für mich und für Euch als einzelne Fichtehausbewohner, dass es hier bei uns nicht, um eine soziale Einbettung, des „Selbst“ geht, sondern um dessen Herausforderung. Und wer jetzt sagt: „nicht soziale Einbettung des Selbst, sondern dessen Herausforderung…“ Was redet der da?? Eigentlich sage ich nur, dass für viele von uns die Herausforderung besteht aus der Einbettung - also aus dem Bett – morgens heraus zu kommen. Und da am besten vor 14 Uhr.
Es geht im Fichtehaus nicht darum Gemeinschaft nur zu erfahren, sondern darum, sie zu gestalten! Es geht nicht darum zu reagieren, sondern initiativ zu agieren!
Und damit möchte ich zum obligatorischen Rudolf Steiner Zitat dieser Rede kommen. Rudolf Steiner bringt nämlich das was ich hier angesprochen habe in einer Formel auf den Punkt. Er sagt: „Werde ein Mensch mit Initiative!“ Was meint er damit? Was kann für uns solch ein Spruch bedeuten? Es geht, wenn man eigenständig im Sinne des Ganzen sein möchte, darum, sein eigenes Verhältnis zu den anderen Menschen nicht auf Betroffenheit abzustellen. In dem Fall würde man sich die Frage stellen: „Wie werde ich angesprochen?“ Es geht vielmehr darum unser eigenes Verhältnis zu unseren Mitbewohnern auf Verantwortlichkeit abzustellen. Sich also zu fragen: „was kann ich beitragen?“ Werde ein Mensch mit Initiative! Das ist eine zeitgemäße Herausforderung, die auch bei uns im Fichtehaus dran ist.
Ich denke, dass die Gründer unseres schönen Hauses diesen Satz sehr ernst genommen haben, als sie in den sechziger Jahren diesen Bildungs- und Kulturimpuls verwirklichten. Damals hat eine kleine Gruppe etwas Großes für viele Menschen initiiert. Heute, fast 60 Jahre später, ist das Studierendenwohnheim selbstverwaltet unterwegs und jetzt gilt es für jeden von uns diesen neuen Impuls des gemeinschaftlichen Bestimmens, Verantwortens und Verwaltens selbstwirksam und in Verbindung mit Verantwortung für das Ganze zu stärken und weiterzuentwickeln.
Dabei ist das Ganze hier nichts im Voraus definiertes, sondern es wird im tätigen Vollzug jeweils mitgestaltet. Es ist also in hohem Maße veränderlich und von uns abhängig. Initiativ zu werden und eigenständig im Sinne des Ganzen zu handeln ist keine leichte Aufgabe, denn jeder von uns muss nicht nur selbst in die Gänge kommen, sondern wir müssen auch noch unsere Orientierungen, Zielsetzungen und Intentionen selbst bestimmen und verantworten und verwalten. Das macht keiner für uns!
So wünsche ich mir für uns alle, dass wir trotz oder gerade wegen der von außen zusätzlich dazukommenden Schwierigkeiten – sei es durch Corona, oder durch die anstehende Renovierung, oder durch Konflikte auf oder zwischen den Stockwerken – dass wir all diesen Widerständen zum Trotz weiter an unserem Projekt Fichtehaus arbeiten. Dass wir alle auch die sonst im Alltag so gängige eigene Haltung umwenden und dass jeder einzelne es schafft nicht mehr nur von mir, oder von meinem Stockwerk oder von meinem Gremium auszugehen, sondern dass wir immer mehr lernen vom Ganzen her zu denken und unser Eigenständiges Handeln daran ausrichten.
Lasst uns weiterhin initiativ bleiben und es noch viel mehr werden!
Vielen Dank
Weiterführende Literatur:
„Eigenständig im Sinne des Ganzen“, Karl-Martin Dietz, 2019 Menon Verlag, Heidelberg
„Werde ein Mensch mit Initiative“, Rudolf Steiner, Hrsg. Jean-Claude Lin, 2010 Verlag freies Geistesleben, Stuttgart
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